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Norbert Thürich

Borstig möchten Finger nach ihr greifen, ihre Schönheit zu ertasten, ihrer Brüste Form ermessen, öffnen ihre Scham, Jungfräulichkeit zu prüfen, und zu stopfen noch der Gaffer Meute Rachen mit ihres Fleischs Geschmack. Maul an Ohr, zu brüllen ihres Duftes Süße. Sie, die Reine, zwischen Schlaf und Sein, ihrer Hände, Lippen, Augen Zärtlichkeit zu bergen im Refugium des Traums, nicht entweiht zu werden durch der Krallenpfoten Griff, geopfert nicht der Augenhöhlen leeren Abgrunds, in Nüstern nicht gesogen, deren Moder aufzufrischen. Meiner Muse Wesen werdet ihr nicht kennen.

Ulysses Purr war kein bemerkenswertes Kind

Romanauszug


O Berge, Täler weit, o Höh'n

(Historisch-transzendente Reflexionen, grenzüberschreitend)

Friede breitete sich über frühsommerlichem Gefilde, Ahnungen klärten sich, Schicksale strebten der Vollendung entgegen. Hier traf Vergängliches auf Ewigkeit. Ein Ort der Zärtlichkeit und des Begehrens, des Innehaltens, gleichermaßen des Bewahrens; Fluchtort inmitten der Gegenwart traumverlorener Öde: Alle Schlachten waren geschlagen, alle Intrigen gesponnen, aller Aufruhr verhallt und alle Klagen ohne Echo. Alle Verirrungen waren den Gauklern angelastet, und verlacht die Apokalypse. Heilsam wirkte die Todesstrafe für Schriftkundige. Übertönt vom infantilen Geplärr des Pöbels, war das Flüstern der Dichter und der Visionäre, der Philosophen und der Heiligen nicht mehr durchgedrungen. Unberührt von deren Scheitern mochte hier, in dieser tröstlichen Stille, ein aufmerksamer Lauscher heimliche Signale kosmischer Wahrheit empfangen, verständlich nur dem Verständigen. Sollte die Welt morgen untergehen, an diesem Ort würde – aller Logik des Homo oeconomicus zum Trotz – heute noch ein Apfelbäumchen gepflanzt. Mord und Totschlag fanden anderswo statt, Wunschtraum, nicht erst seit Goethe im fernen Orient. Dort saß ein unerbittlicher Gott mit am Kartentisch; die Vernichtung aller Ungläubigen organisierten in gotteslästerlichen Planungsstäben seine Stellvertreter; insch Allah, phantasierte deren Gefolgschaft die Weltherrschaft herbei, da doch ihre Zeit längst abgelaufen war. Neidverschworen liebten sie den Tod und haßten die Heiterkeit des Lebens. Sie skandierten fremdes Liedgut, bis alles in Scherben fällt, und vernahmen mit Wohlgefallen von dessen Erben den Refrain. Seit an Seit, die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen marschierten beide unbelehrbar und mit ruhig festem Schritt: zum ewigen Heldenkampf in Walhall die einen, in ihrem Paradies zur täglichen Schlacht gegen das Hymen die anderen.
    Derartigen Phantasmagorien wehrten hierorts gleichsam die Berge, obwohl selbige nicht sehr hoch, Schutzwall den Tälern, die nicht unterweltstief; im Glauben krisenfest, hausten Provinzler in ferner liegenden Städtchen; näher in Flecken siedelten seit Olims Zeiten arbeitsame Ackerbürger. Schmuck und pittoresk die Gebäude, hie wie dort, im Geiste anspruchslos die Bewohner. Traditionen waren ihnen heilig. Rückbesinnung entsprach nicht ihrem Naturell, Gedankentiefe nicht dem Trend der Zeit. Nur wenn einer von ihnen, ob Mann oder Frau, gelegentlich zu einem Behufe in die Nähe kam, sandten er oder sie vielleicht einen Blick hinauf in die Höhe, begegneten dort barock umrahmter Erwiderung der Geschichte, enträtselten, wenn‘s hochkam, einen gefälligen Aspekt derselben, ehe er sich, darob süffisant grinsend (als Weib verschämt), wieder seinem oder ihrem Tun widmete, Wiesen zu mähen, Vieh zu besorgen, Reife zu prüfen, Ertrag zu schätzen. Den Reiz der Natur bemißt dieses Volk nach Heller und Batzen. Auf praktische Weise naturverbunden, hatten sie die Zumutungen der vergangenen Jahre mit Gleichmut und in Gottesfurcht überstanden, auch in der Gewißheit, daß die Welt nicht zu ihren Lebzeiten untergehen würde.
    Noch im Aufbruch, doch schon zur Vollendung bereit, ruhte gleichsam der Landstrich in sich, gleich einem zutiefst von sich überzeugten Liebhaber, nach vollbrachtem Orgasmus zu weiterem Höhepunkt gerüstet, im Arm die beglückte Gespielin; sie, Spiegelung unsichtbarer Galaxien und Schwarzer Löcher, gibt sich niemals zufrieden. Deren Phantasien wuchern noch, obwohl ihr nichts zu wünschen übrigblieb; genügend ihrem universellen Anspruch, ist sie maßlos. Tageszeitlich entbehrt unser Bild ihrer, wie gleichfalls der menschlichen Präsenz. Doch halt, nicht ganz. Der Mangel relativiert sich. Denn hier wie dort, im Realen wie im Sinnbildlichen, behaupten sich noch Aspekte der Liebe. Nach Dezennien selbstgerechter, allzu friedlicher Prosperität ein wenig träge geworden, abgenutzt von überstandenen Krisen und Katastrophen, wirken sie dennoch in metaphysischer Bescheidenheit; Reflexe, nicht mehr, aber doch Zeichen. Fata Morganen zeitlich und räumlich ferner Aktivitäten, modulieren sie sogar die rastlose Resonanz der Natur, vulgo, und ewig singen die Wälder. Nun ja, sie rauschen, verteidigen weiterhin, obwohl bereits krank, beharrlich die Frequenz von vierhundertzweiunddreißig Hertz, gegen das Fortschrittsgelärme des Menschen und seine eingebildete Suprematie. Jedoch ewig währen auch diese vermeintlich unerschütterlichen Reservate natürlicher Harmonie nicht, immerhin jedoch ewiger, wenn die Steigerung erlaubt ist, als ein von Menschenwille der Landschaft oktroyiertes Bauwerk, in dem, stellvertretend eingemauerter Skelette Unbotmäßiger, treuloser Eheweiber, Erbbegünstigter oder anderer Nebenbuhler um die Gunst des Schicksals, Klänge gefangen sind, Echos von Seufzern und Stöhnen, von Qual und Schmerz und, ja, von Liebe auch. Unhörbar dem abgestumpften Sinn der Moderne, verbrauchen sie sich nur sehr langsam, aber doch Dezibel um Dezibel.
    Allein die Gipfel dieses nördlichen Vorgebirges, ankündigend dessen südlicher gelegene Vollendung, wirken unverwüstlich, wenngleich selbst sie, menschlichem Sinn verborgen, mit oder ohne Klima-, Kriegs- oder andere Krisen, unter Wetters Einfluß gemächlich zerbröseln. Vorerst behaupten sie noch ihre Form, eindruckschindendes Ergebnis längst vergangener tektonischer Gewalten, anmutig aufschwellend, nicht ohne Erotik die einen, unzugänglich steil dräuend die anderen, da wie dort gleichsam letztes Aufbegehren vor der Beugung durch Alters Last und Mühsal, zu tragen künstliche Behausungen, Wehranlagen, schaurige Richtorte oder Hexentanzplätze: Nachsichtig duldend die Anmaßung kreativer Obsession, reicht, oberflächlich betrachtet, die leidlich opernhaft ragende Kulisse eben nur zu scheinbar boulevardesker Gefälligkeit. Darin sich gelegentlich auch Epigonen gefallen. Die Ebenen hingegen, vermissend jegliche Dramatik, sind prosaischem Gleichmaß hingegeben. Solchen, mit ein bißchen gutem Willen immerhin ästhetisch zu vereinbarenden Gegensätzen angepaßt, blicken somit hier – dem Himmel nur marginal näher – keineswegs olympische Naturen allherrschaftlich heischend von diesen Gipfeln, sondern solche mit doch irgendwie verdächtig ähnlichen Schwächen und Sehnsüchten von durchaus irdischem Gepräge.
    Auf einem der höheren von ihnen prangt eine Burg, trutzig verspieltes Kleinod – Grenzstation zeitlosen Mythos‘ und nützlichkeitszermürbter Auen Gegenwart –, genuines Zeugnis längst obsoleten Bewußtseins der Wehrhaftigkeit wider Mensch und Natur, Bollwerk gegen Turbulenzen himmlischer wie irdischer Genese. Vormals seinem originären Charakter entfremdet durch frivole Um- und Anbauten, somit mehr Schloß als jenes – immerhin symbiotisch gelungenes Miteinander. Eines gewinnt von des anderen Substanz, mitnichten Symbol anmaßenden Eklektizismus‘; Atmosphäre pur, heiter und verträumt, kraftvoll und ergreifend, überzeitlich erhaben. Schöpfung eines bedeutenden, jedoch vergessenen Baumeisters, erste Hälfte achtzehntes Jahrhundert: Erdacht, konzipiert, um-, sowie – barocker Sinnlichkeit huldigend – ausgebaut, durch eines jener, heute von des Teamgeistes Mittelmaß längst ausgerotteten Universalgenies, bewahrend Mystik und erdichtete Romantik des Mittelalters zum einen, zum anderen bis heute bedienend, süffisant verschämtes Erinnern an Seines hochwohlgeborenen Auftraggebers erotische Obsessionen.
    Dieser, ein zeitgemäßer Duodezfürst, gleichwohl Ästhet und verkappter Libertin. Geknausert hat er nicht, doch für seine Verhältnisse bescheiden: Gewidmet als Liebesnest einer seiner Mätressen, nicht irgendeiner, denn deren waren ein gut halbes Schock.
    Legende: Nach übermäßigem Genuß des Fleisches verstarben Seine Erlaucht Arminius Graf von und zu Graubitter am 17. Junius im Jahre des Heils 1788, gewandelt hienieden in Gottesfurcht und Gottestreu reichlich neunundneunzig Jahr, in den Armen seiner jugendlichen Favoritin. Der HeRr sei seiner armen Seele gnädig.
    Die Wahrheit: Stranguliert am Fensterkreuz um einer letzten göttlichen Erektion willen; ein Hedonist über den Tod hinaus, denn sie entließ ihn – nicht ganz freiwillig – zu spät aus ihrem Schoß. Großzügig bedacht heiratete die Erbin später den Kammerdiener, derselbe, der seinen Herrn, Friede dessen gräflichen Gebeinen, rechtzeitig hätte abschneiden sollen. Ein Misanthrop, wer Übles dabei denkt. Keinesfalls Seine Erlaucht.
    Pervers war jener nicht, Romantiker vermutlich. Das ist einer, der sich selbst als Opfer seiner Leidenschaft darbringt, wenn auch ungewöhnlich unter Blaublütlern. Schrieb daher nicht Geschichte mit Blut und Eisen, wie etliche namhafte Repräsentanten seines Geschlechts. Er, kein Don Juan, eher Geistes- wie Sinnesverwandter Casanovas, hatte seinen Machiavelli nicht gelesen, anstelle den Marquis de Sade, Boccaccio und andere unchristliche Verlästerungen des Schöpfers Ebenbild. Immerhin arm, bei derartigem Temperament, ist er wohl nicht gestorben, dieser Potenzprotz und Verschwender, Ausbeuter und Expropriateur. Laut Carlos Marx. Über erstere dieser Eigenschaften vermerkt »Le Capital« absolument rien; die anderen mögen bedingt zutreffen.
    Ihr Erbe wirtschafteten die gräflichen Nachfahren des 20. Jahrhunderts, denen qua Ignoranz das dialektische Verständnis für die Theorien von Charles und Frederick zu eigenem Nachteil abging, in den Ruin. Als solche erwarb, knappes Lebensalter später, das romantisch heruntergekommene Ensemble einer, der sein »Kapital« zu eigenem Nutz und Frommen, sowie zu dem seiner Nachfahren, gelesen und die richtigen Schlüsse daraus gezogen hatte. Auf den Fundamenten von Glück und Zufall – von Schuld schweigen wir vorerst – war er somit in die Lage versetzt, der deutschen Nation ein kaum mehrwertträchtiges Zeugnis ihres kulturellen Erbes, Pretiose von überschaubaren Ausmaßen, zu erhalten:
    Exklusiv diverser Nebengelasse, bei immerhin fünfunddreißig Zimmern, in deren beliebtesten und geräumigsten derzeit unter anderem längst überfällige handwerkliche Modernisierungs- und Installationsarbeiten zwecks Badeinbaus sowie Renovierungsmaßnahmen stattfinden. Aufgrund dessen verbleiben mittelfristig für Gäste lediglich Zellen, Verschläge, Zimmerchen, Kemenaten, Säle, Erker, offene Treppen und geheime Treppchen, Gänge, Galerien, Turmgelasse, Kellergewölbe, Grotten, Türen und Geheimtüren. Dies alles, um das skizzierte Bild abzurunden, eingefriedet, bei rund Ellenstärke, von solidem Mauerwerk, hinter dem es, so unausrottbarer Volksglaube, gelegentlich zu Spukerscheinungen kommen soll. Wir weilen jedoch gegenwärtig nicht im geisteraffinen Albion, sondern im aufgeklärten Germany. Hierorts des Schlosses Graubitter irrlichtern nicht weißgewandete Gespenster klagend hinter den vieläugig kassettierten Fenstern, umrahmt von barockem Zierat, sondern lediglich die Schatten ihrer heutigen Bewohner. Auch von eingemauerten Frevlern, Sündern, illegitimen Erben und anderen Verfluchten beiderlei Geschlechts, deren Ketten in billigen Schauergeschichten genregerecht zu rasseln pflegen, ist genealogisch nichts überliefert, und wenn ein Stöhnen nächtens durch die Korridore schauert, so mag ein heimlicher Lauscher als dessen Anlaß Lust mit Leid verwechseln. Dies zu unterscheiden wäre ein Quentchen subversiv-kreativer Phantasie vonnöten, welche die nationale Varietät der Aufklärung bereits zweihundert Jahre zuvor als undeutsch deklariert und konsequent ausgemerzt hat. Mit eben dieser Gründlichkeit wurde der Aufbruch in neue Geisteswelten vorzeitig beendet, und die Rettung vor den Gefahren des selbstverantwortlichen Gewissens in der Romantik gesucht und nicht gefunden. Individuelle Ausnahmen, welch billiger Gemeinplatz, bestätigen die Regel oder deren Gegenteil, ganz wie beliebt.


Das Schloß und seine Bewohner

Der Hausherr, Dr. jur. Herbert Purr, Vater des Titelgebers, (momentan abwesend), obwohl kein jugendlicher Heißsporn mehr, ist seiner Gattin Amedea, international hofierte Aktrice, noch immer ein viriler Liebhaber, wie sie desgleichen von durchaus furiosem Charakter. Derart ausgestattet haben sie in inniger Verbundenheit drei Kinder gezeugt, Persephone, die Mittlere, philanthropische Ärztin, des weiteren Hector, Lebenskünstler, Freigeist im klassischen Sinne, wovon er, verschmähend elterliche Subsidien, nicht leben könnte, wäre er nicht der Schöpfer überaus origineller Möbel, die des Zeitgeistes und aller Tabus modisch einfältiger Arroganz spotten. Über den Jüngsten, benannt Ulysses, gäbe es nichts weiter zu berichten, als daß er, wie gesagt, der Jüngste und derzeit studiert. Welches Fach, das wissen die Götter, auf alle Fälle nicht die Eltern. Er selbst erging sich, mangels klarer Zielsetzung, bei dem Thema wiederholt in blumig-nebulösen Umschreibungen. Nichtsdestoweniger absolviert er seine akademischen Stationen – zum Erstaunen eines Großteils der Familie, die diesem Wechselbalg stetes Scheitern prophezeit hatte, während der Rest sich in düsteren Andeutungen erging, die so diffus wie weit hergeholt erscheinen – mit Erfolg. Beide Varianten wären durchaus standesgemäß und gereichten einem Sproß aus stinkreichem Hause hinsichtlich seiner Zukunftschancen keineswegs zum Nachteil. Niemandem war indes auch nur halbwegs klar, wie er in diesem oder in jenem Fall die seinen dereinst zu nutzen beabsichtigte. Er selbst schwankte zwischen verschiedenen, teils diametralen, ja, geradezu unvereinbar erscheinenden Optionen politisch ambitionierter Profankarriere zum einen oder, nicht weniger naiv angelegt, der einer künstlerischen Profession, sei es der schwarzen des Schreibens oder der schillernd bunten der Schauspielerei. Unverhohlen festzustellen folgte er in allen drei Möglichkeiten einer gewissen idealistischen Veranlagung. Daher sich die Frage aufdrängt in welcher der drei Sparten er damit am weitesten käme? Womit, angesichts familiärer Vermögenslage, keinesfalls der materielle Erfolg gemeint sein kann. Zweifellos ist er halbwegs gescheit, wenn nicht sogar sehr, und, wie alle Purrs, von angenehmem Äußeren, hatte aus Letzterem jedoch nie einen wie auch immer gearteten Vorteil geschlagen und sich eine Kindheit lang lediglich darin gefallen, die Verwandten zum Narren zu halten; bis weit über die Pubertät hinaus begleitete ihn der Anschein, er weigere sich erwachsen zu werden. Seine einzige Begabung schien in dem Hang zur Verwandlung zu bestehen, verbunden mit dem Talent in action verbale Parodien zu zelebrieren, zweifellos ein Erbteil seiner Mutter, ohne, daß sich daraus künftig professionelle Qualität hätte ableiten lassen. Kindgemäßes Spiel eben, nichts Außergewöhnliches, wie Großvater mütterlicherseits, Rudolf von Schrödinger, Koryphäe der Psychologie und der Philosophie, vormals liebevoll, wenn auch mit einem gewissen genüßlich ambitionierten Akzent, so überzeugend wie elterliche Hoffnungen desillusionierend, definiert hatte. Denn diese meinten wohl hin und wieder aus vorgeblichem Anlaß – Einbildung oder Sorge – Befremdliches in seinem Wesen zu bemerken. Relativierten jedoch (von seelischen Widersprüchen befangen und in der Befürchtung durch wahrhaftige Beweise würde, gleich einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, der Verdacht zur Realität) stets augenblicklich die eigene Aussage. Onkel Max, Bruder des Hausherrn und Protagonist bei diesem Thema, unterstellten sie eine Art Besessenheit infolge berufsbedingter Deformation als Pädagoge, wie auch, aus anderen Gründen, an die man besser nicht rührte, dessen Frau Laura. Damit wären die Hauptakteure der Familie, wenn auch nicht erschöpfend, so doch für den Moment hinreichend eingeführt. Neben Geschwistern und gelegentlichem Verwandtenbesuch von Cousins, Cousinen verschiedener Grade, Neffen, Nichten, sowie undefinierter Verwandtschaftsverhältnisse, sei noch der Butler Karlemann erwähnt. Dieser wohnt gelegentlich standesgemäß diskret – dies nur außerhalb seiner wie ihrer Dienstzeit – Annelotta, dem Zimmermädchen bei, und Finn, der Gärtner, treibt es ebenso pflichtbewußt mit Köchin Hermine. Sie alle wissen sich dem gräflichen Vermächtnis verpflichtet, erfreuen sich, sofern katholisch, beim Sündenbekenntnis während der Beichte bei Priester Erlwein, des so geschichtsbeflissen wie standesgemäß mit einer drallen Haushälterin Versorgten, Verständnis und Wohlwollen: Wer ohne Schuld, der werfe den ersten Stein: Joh. 8,7. Hochwürden jedenfalls nicht.
    Wenn die geneigte Leserschaft nun erwartet, die skizzierte Darstellung vergangener wie gegenwärtiger erotischer Verhältnisse stehe wegweisend für den weiteren Verlauf der Schicksale, ihr Wohl und ihr Wehe, ihr Miteinander und ihr Gegeneinander, so befindet diese sich geschlechtsübergreifend auf dem Holzweg. Tragik und Lust liegen oft dicht beieinander, ergänzen sich gar dialektisch oder heben sich darin nolens volens auf. Beide sind, wie das Kräutlein Niesmitlust, das göttliche Ingredienz im Kaleidoskop menschlicher Beziehungen, ohne die eine auch nur halbwegs ausgewogene Darstellung nur mißlingen könnte; je nach Dosis blickschärfend das eine, heilsam bis tödlich das andere, wie man seit Paracelsus weiß. Ähnliches mag für Reichtum gelten. Ein Zuviel tut dem Menschen selten gut. Aber welches ist das Maß, um Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die sie von Fall zu Fall gar nicht verdienen? Geld verdirbt den Charakter kommt als wohlfeile Binsenweisheit daher. Als Gegenmittel hat sich die Liebe nicht immer bewährt, wenigstens im Falle des Wucherers und Geizhalses Ebenezer Scrooge aber doch; indessen wegen der Mitwirkung irgendwelcher Geister bei dessen Läuterung vielleicht ein untaugliches Beispiel. Anders als dieser sind Dr. Purrs Vorfahren nicht durch pathologische Knauserei zu Vermögen gekommen. Aber einen Preis hatte auch das, und den begleichen zähneknirschend oder gelassen meist die Nachfahren. Die Cleveren unter ihnen wissen diese unbequeme Last der Allgemeinheit aufzubürden. Zu denen zählten Ulysses‘ Vorfahren in der Generationenabfolge immer weniger, bis schließlich mit Fug und Recht sein Vater sich von aller historischen Schuld und Verantwortung freisprechen kann. Die überstandenen Katastrophen und Krisen hatten ihn enorm viel Geld gekostet, wenngleich dies auch nur einen verschwindenden Bruchteil seines selbstgeschaffnen Vermögens betraf. Von der Menge des ererbten nicht zu reden.
    Wie bereits angedeutet, ohne ein gerüttelt Maß urgroßväterlichen Glücks in väterlicher Linie – dieser Umstand verdient ausdrücklich hervorgehoben! – (von Moral ist hier ebenso ausdrücklich nicht die Rede) wäre das ganze Wissen um Wert und Mehrwert für die Katz gewesen. In den Untergangswirren von totalem Krieg und vermasseltem Endsieg war jener, im zwölften oder im elften Jahre des Unheils, anno 1945 oder Ende vierundvierzig, hinbefohlen, mitsamt seinem Sohn, geschichtsoffiziell ebenfalls Offizier der Wehrmacht, in Wahrheit beide SS, zur rechten Zeit am rechten (unbekannten) Ort gestanden. Die Rede ist von des aktuellen Besitzers Urgroßvater und Großvater, mithin Ururgroßvater und Urgroßvater des jungen Ulysses, Johann Nepomuk, sowie Ewald Purr. Diese, nachmalig hochangesehene Ehrenbürger der Kreisstadt, beide fast zeitgleich zehn Jahre zuvor dahingegangen, Ersterer im biblischen Alter von neunundneunzig, Letzterer, zwanzig Jahre jünger, durch Krankheit, beigesetzt, mit allen, jeweils durch Sondererlaß der Landesregierung genehmigten, militärischen Ehren dreier noch lebender ehemals höherer Off’zierskam’raden – wie sie selbst keiner Kriegsverbrechen beschuldigt – neben den Gattinnen Edelgunde zum einen und Valerie zum anderen, ihren vor ihnen verschiedenen gleichermaßen spiritistisch inspirierten Gattinnen. Ein knappes Jahr später durch tragischen Unfall gefolgt von Dr. Purrs Vater, Hans, des Ewald Purrs Sohn, weitere sechs Monate darauf von dessen gramgebeugt untröstlicher Gattin Renate, in der ebenfalls erworbenen Familiengruft derer von und zu Graubitter (welchletzte ohne Nachfahren), auf dem Waldfriedhof der Gemeinde, zu welcher die Liegenschaft der ehemaligen Ritterburg von alters her gehört. Dort zur Ewigen Ruhe gebettet, findet man Schuldige neben Unschuldigen, Gläubige neben Ungläubigen, Treulose neben Standhaften. Nicht Menschen sollen über Menschen richten. Dem HeRrn allein gebührt das Recht. Hosiannah. Der Rest ist beredtes Schweigen über Größe und Niederungen deutscher wie auch individueller Geschichte.
    Chroniken und Annalen sind hingegen des Lobes voll ob der Herrschaft des gräflichen Geschlechts, zurückreichend bis ins dreizehnte Jahrhundert. Dazumal waren sie tatsächlich noch von ritterlichem Stand, wurden jedoch bereits vom Stauferkönig Konrad IV., wegen unbestreitbarer Verdienste um Kreuz und Krone, in den Grafenstand erhoben. Auch heute – darin ähneln sich Zeiten und Mechanismen durchaus – würde man einen vergleichbaren Vorgang offiziell nicht Bestechung nennen, sondern Parteispende. Die gehörige Summe hatte weiland der Ritter Arnulf von Graubitter, genannt der Schlaue, zum Teil auf dem Weg ins Heilige Land, sowie dortselbst, zusammengeraubt und -gemordet, zum anderen Teil von in seinem Herrschaftsbereich ansässigen Schutzjuden geliehen und nie zurückgezahlt. Er wurde im 20. Jahrhundert von Papst Pius XII. selig gesprochen, da er, den geheimen und wahrhaftigen Archiven des Heiligen Stuhls zufolge, die verstockten Seelen von 20.000 Muselmanen und Juden der Ewigen Verdammnis entrissen, indem er in heiligem Eifer ihre Herzen dem Christentum geöffnet habe. Die Wahrheit: Mit dem nämlichen Eifer hatte er 200 dieser Unbeugsamen von eigener Hand erschlagen. In seinem Auftrag folgte jeweils, ihm auf dem Fuße, ein Dominikanerpater, der die Toten oder Sterbenden kurzerhand taufte.
    Arnulfs später Nachfahre Arminius jedoch war in der Tat ein milder und gerechter Herrscher gewesen. Da mußten die Chronisten nichts beschönigen. Seine verzeihliche menschliche Schwäche für das schöne Geschlecht war dem Umstand einer schmerzfreien Dauererektion (medizinisch Priapismus) geschuldet, die ihm bis fast zum Lebensende anhing, aber eben nur fast. Die Natur hatte ihn lange Zeit verwöhnt. Doch mit dem Schwinden der Manneskraft wollte er sich nicht abfinden. Da selbst das Ballett junger und immer jüngerer Mädchen ihn nicht mehr erregte (dafür jedoch das selten amtierende Gewissen kirchlicher Würdenträger; man kann es auch Sexualneid nennen), mußte schärferes Kaliber her. Denn er wußte, was er seinen Mätressen und der Nachwelt schuldig war; Liebe über Zeit und Raum hinaus. Was wäre ein Volk ohne Legenden? Diese beflügeln, fortwirkend bis in die Gegenwart, die Phantasien harmlos unkritischer Geister und stellen somit einen wenigstens widerspruchsfreien Teil ihres Geschichtsbewußtseins dar. Jedoch derartige Naturen sind weiterer Erwähnung nicht würdig.


Der Tag

Laue Winde, damals wie heute, betörten mit balsamischen Buketts nach Ginster und Rosenthymian, trugen noch andere landestypische Aphrodisiaka herbei; ein Hauch von Gülleduft, Mahnung an die Vergänglichkeit: Wir verzeichnen des Arminius zweihundertdreißigsten Todestag. Machen wir uns nichts vor, die Romantik der vorromantischen Dichtung, als auch die Tänze á là Pastourelle sind unwiederbringlich dahin. Nur die Wolkenschäfchen am Himmel, wo sonst, haben, dem Klimawandel zum Trotz, überdauert. Andere Gesänge sind aufgekommen; blau, blau, blau blüht der Enzian, aber nicht hier. Bis zum Hochgebirge, erahnbar am Horizont gen Süden, ist es noch eine gute Strecke. Immerhin auch hierorts blaut der Himmel, satt bis zum Überdruß. Schwarzbraun ist die Haselnuß, ja ja; dorten am Waldesrand, tief unten im Tal grast eine Herde Kühe, aus Europas Norden importiertes Hornvieh. Zärtlich lockend verweht Glöckchenklang. Ein Jäger aus Kurpfalz schnürt im Tann einer Maid hinterher und erlegt sie bald darauf, ganz wie es ihm gefällt, und wohl auch ihr. Gewehrt hat sie sich nicht. Bächlein murmelt sich durchs Grün. Vöglein zwitschern ihre vermeintlichen Liebesmelodien. Und über allem liegt GoTtEs Glanz und Erhabenheit. Rien ne và plus; die Idylle ist nicht steigerbar, nicht einmal fürs deutsche Gemüt: O Reinheit des Bildes!
    Bis auf den Jägersmann!
    Unterstellen wir ihm indessen, in dubio pro eros, lautere Motive – er ist schließlich seinem Geschlecht verpflichtet –, drängt sich doch ein störendes Detail anderer Art ins Bild.

Kommentar (zu "Ulysses Purr war kein bemerkenswertes Kind")
Der Titel impliziert, daß Ulysses eben doch ein bemerkenswertes Kind war. Alles im Rahmen kindlicher Flausen? Die gespenstische Wahrheit des spät Nachgeborenen reicht zurück bis in die Zeit des Dritten Reiches. Hingegen die Eltern haben ihr Bestes getan. Die ›Leichen im Keller‹ haben nicht sie zu verantworten, die aktuellen anderer Familienmitglieder auch nicht. In Liebe pflegen sie ihre kleinen und großen Geheimnisse.