Da ist sie, die Versuchung, Albtraum oder Traum, verzichtbar oder nicht. Wes Geschlechts auch immer, drängt sie sich in unsere Gegenwart. Was hat sie mit uns vor, wozu verleiten will sie uns? Verfolgt sie eine Absicht überhaupt? Will sie uns mahnen, warnen? Vor sich, vor uns selbst? Ist sie nicht eher dabei, sich von uns zu entfernen? Stuhl und Schuh, Ankommen oder Gehen? Haben wir sie denn verletzt, entehrt, mißachtet, daß sie uns ihr Antlitz vorenthält? Das der Meduse würde uns zu Stein erstarrn. Weib oder Nichtweib, antworte.
Frühe Erzählungen, neu bearbeitet
1. Der unsichtbare Kreis, utopische Erzählungen, 1977
In eisiger Planetenferne begegnet dem Forscher seine verlorene Liebe. Wer ist das Wesen? Die Frage hätte er besser unbeantwortet gelassen. // Ein Amüsierausflug junger Leute zu den äußeren Planeten endet in der Katastrophe. Fun for ever. Sie ignorierten die Stimme der Vernunft. // Die Besatzung einer fernen Raumstation verliert die Nerven, greift grundlos ein außerirdisches Raumschiff an. Die Aggression wird anders als zu erwarten beantwortet. Zweihundert Jahre später entdecken Raumfahrer jene Besatzung in einer unbegreiflichen Existenzform und bringen sie durch Ignoranz tatsächlich beinahe noch um.
2. Störgröße M, utopische Erzählungen, 1980
Ein Jubiläum des historischen Raum-Heroen steht an, Ikone der kosmischen Ära. Zwei Historiker begeben sich auf seine Spuren und entlarven fern der Erde dessen Verbrechen. Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt. // Im Rennen um den besseren zweier neuer Planeten eines fernen Systems ignoriert die Besatzung eines der Schiffe alle ethischen Maßstäbe und siegt sich in den Tod. // Verschüttet in der Tiefe eines Planeten überleben zwei Menschen dank autogenem Tiefschlaf und Raumanzug 200 Jahre, nur unterbrochen von kurzen Befreiungsmühen. Endlich frei, versuchen sie Hilfe herbeizurufen. Doch eine Patrouille auf der Oberfläche, eingeengt durch bürokratische Regeln, folgt den Signalen nicht.
3. Abends im Park und nachts und morgens, Geschichten aus der DDR, 1983
Dort begegnet ein älterer Mann einer jungen Frau. Sie ist auf der Suche nach Leben. Er hat die Suche schon aufgegeben. Durch ihn erfährt sie zum ersten Mal im Leben Liebe, und er durch sie zum letzten Mal. // Ein Lehrer vermittelt ein Heldenbild, durch das einer seiner Schüler zu Tode kommt. Die heile Welt dörflicher DDR-Idylle erhält einen Riß. // Junger Mann begegnet in einem seltsamen blauen Haus einer phantastischen Welt und bekommt Probleme mit der spießbürgerlich sozialistischen. // Ein Kombinatsdirektor verdankt seine Karriere einem polnischen Partisan. Von ihm gefesselt zwischen den Fronten ’44, gibt ein Schild ihn als Verräter aus. Kämen die Deutschen zuerst, hätte es seinen Tod bedeutet.
4. Elternmißhandlung oder Die Vollendung des Turmbaus zu Babel, Phantastische Erzählungen, 1994
Im Fortschrittswahn gefangen, vernachlässigt ein Elternpaar sein Kind. Mittels phantastischer Imagination erschafft es sich seine eigene Welt und vergißt seinerseits die Eltern. Die schöne Spielwelt des Kindes tötet schließlich alle. // Einsam sucht der gefallene Diener der Macht im Rausch Erlösung. Tief gesunken, begegnet er einer Kreatur, die vor Jahrtausenden sein Schicksal erlitt und findet zu sich selbst zurück. // Durch Blitzschlag tauscht einer seine Identität und gewinnt in der des anderen seine Liebe. Doch mit seiner neuen Existenz lädt er sich auch dessen moralisches Versagen auf.
5. Die Liebe am Ereignishorizont, utopische Erzählungen, 1995
Besondere Umstände erlauben die verbotene Liebe zwischen einer Außerirdischen und einem Irdischen. Wissend, daß sie deshalb sterben wird, geht sie die Verbindung ein. Als der Vorgesetzte den Mann den Aliens ausliefern will, tötet er ihn. // Ein Mann und eine Frau überleben die Bruchlandung auf einem Planeten. Das Ende ist absehbar. Um weiterzuleben überträgt er seine Persönlichkeitsmatrix auf eines der grauenhaften dortigen Lebewesen. Sie bleibt mit ihrer Liebe zurück. // Zwei Schwestern verlieben sich in einen Unsichtbaren und verschweigen es voreinander. Doch dieser wird wegen seiner Formel gesucht und muß weiterfliehen. Am Ende täuschen die beiden Frauen sich selbst und gegenseitig etwas vor.
Zuletzt erschienen: Du bist nicht der Du warst wirst Du nicht sein, 2019
Als die Musik geendet hatte, legte sich eine merkwürdige Stille über den Platz. Selbst die Blicke der Umstehenden schienen zu schweigen. Für einen Augenblick waren der Haß, das Mitleid, die unbeantwortbaren Fragen an die deutschen Soldaten nach dem Warum in ihnen versiegt. Ein wimmernder Schrei bahnte sich seinen Weg. Irgendwo entstand Bewegung, pflanzte sich durch die Reihen fort. Hälse reckten, Köpfe drehten sich. Blicke suchten. »Was ist, was ist?« flog die Frage wie ein Schwarm scheuer Vögel auf und setzte sich mit der Antwort beladen wieder zur Ruhe: »Ein Kind wird geboren, ein Kind, o Gott, ein Kind.«
»Ein Arzt, ein Arzt!« erscholl der Ruf, und Alexander dolmetschte.
Ein grauhaariger russischer Leutnant tauchte auf und fragte, ob sich unter den deutschen Gefangenen ein Arzt befände. Klömring trat vor.
»Ty Wratsch, Doktor?«
»Da, da«, antwortete anstelle seiner Alexander.
»Bystro, bystro!« Der Leutnant winkte zur Eile. Klömring packte seine Doktortasche, die er auf irgendeine Weise durch alle Wirrnisse hatte retten können. Er zerrte Alexander mit sich.
»Komm, ich brauche dich als Dolmetscher.«
»Ja Perewoditjel«, erklärte Alexander dem Offizier.
»Skoro, bystro!«
So schnell wie gefordert und doch nur widerwillig, wie es Alexander schien, öffnete sich die Gasse zwischen den Menschen. Hinter ihnen schloß sie sich sofort wieder. Mißtrauen lagerte wie Staub aus seelischen Fragmenten auf den Gesichtern. Die Stille wirkte bedrohlich. Alexander kam sich vor, als hätten sie versprochen, ein Mirakel zu vollbringen. Mißlingt es, droht den falschen Wundertätern der Tod. Kopf ab, Herr Leutnant, wenn Sie die Prüfung nicht bestehen.
Die Kreißende lag auf dem Boden. Aus einer schäbigen Decke hatte man ihr eine Unterlage bereitet. Zwei Frauen leisteten bereits erste Hilfe. Aber es schien Komplikationen zu geben. Zwischen den Preßwehen wimmerte die Gebärende.
Der Stabsarzt riß sich die Uniformjacke herunter, verlangte heißes Wasser und saubere Tücher. Eine Bäuerin schleppte einen dampfenden Samowar herbei, ein großes Leinentuch wurde durchgereicht. Eilig aber doch gründlich wusch sich der Geburtshelfer die Hände. Er wies Alexander an, den Kopf der werdenden Mutter auf seine Knie zu betten.
»Sagen Sie ihr, sie soll ruhig und tief atmen.« Er tastete Bauch und Becken der jungen Frau ab. »Sie wird reißen. Ich werde ein wenig betäuben und schneiden. Sie ist eng gebaut. Wahrscheinlich ihr erstes Kind. Wir werden das nähen. Fertig jetzt. Sie soll jetzt pressen, atmen, pressen, atmen, pressen.«
Alexander hielt den Kopf der Frau. Ihre Fingernägel krallten sich in seine Handgelenke. Sie schrie und atmete schwer. Ihr Leid und ihre Anstrengung übertrugen sich auf Alexander. Er begann zu schwitzen. Ihrer beider Schweiß vermischte sich. Er massierte ihr Gesicht. Als wären sie eingeölt glitten seine Finger leicht über ihre Haut, fuhren behutsam im Rhythmus ihres Pressens über Wangen und Stirn. Sie biß ihn in den Handballen. Sein Blut vermischt mit ihrem Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel. Dann brach ihr tiefer, gurgelnder Laut ab, ging über in tiefes, befreites Atmen. Sie fiel zurück, und in das Schweigen der Umstehenden drängte sich ein dünner Schrei.
»Ein Junge«, Klömring richtete sich auf.
»Maltschik«, wiederholte Alexander. Das Wort wurde weitergetragen, wiederholt und ergänzt. Aus dem vielstimmigen Flüstern wuchs ein Tosen, das als Siegesruf über das Areal brandete: »Maltschik rodilsja!« Eine Knabe ist geboren.
Klömring hatte alles Notwendige bereits erledigt. Das Neugeborene war abgenabelt, die Mutter versorgt. Während eine der Frauen den Säugling mit dem warmen Wasser aus dem Samowar wusch, gab er Anweisungen für ihre Behandlung. Alexander übersetzte.
»Choroscho«, sagte Klömring zu Alexander. Er erhob sich und begann sich zu waschen. »Es wäre wahrscheinlich schief gegangen ohne uns. Das hast du gut gemacht.«
Zu zweit wickelten die Frauen das Baby ein und machten Anstalten, der Mutter das Bündel anzuvertrauen. Doch dann hielten sie inne. Mit einem Blick verständigten sie sich. Sie boten Alexander das Kind dar.
»Nimm es nur in meinem Namen«, sagte Klömring
Die Frauen lächelten. Doch ihre Augen bewahrten all das Wissen um das Grauen des Krieges. Mit diesem Ausdruck verziehen sie den fremden Soldaten. Sie drückten keinen Dank aus, lediglich gütiges Verstehen. Vielleicht war es dieser Blick, der Alexander von den Toten seines Krieges erlöste. Er reichte das Baby an Klömring weiter, Der wiegte es halbwegs fachmännisch. Sein breites Gesicht glänzte wie die aufgehende Sonne. Glücklich täppisch, als sei er der Papa, grinste er und wollte es der jungen Mutter zurückreichen. Aber eine der beiden Helferinnen nahm ihm es ab, während die andere ihm leise erklärte: »Sein Vater ist vor einem halben Jahr gefallen.«
Der Blick der Witwe war dunkel, vielleicht vor Haß, vielleicht vor Erschöpfung. Sie nahm ihr Kind entgegen, ohne Klömrings und Alexanders eines weiteren Blickes zu würdigen. Vielleicht war ihr aber auch lediglich die Intimität peinlich, die sie alle drei nunmehr mit einander verband. Verlegen standen die beiden deutschen Soldaten in dem Kreis fremder Menschen. Klömring säuberte und ordnete notdürftig seine Instrumente. Massenhaftes Sterben hatten er und Alexander mit angesehen, myriadenfaches Leid, unendliches Elend. Tausende von Kilometern hatten sie zurückgelegt, um hier in einer namenlosen russischen Stadt einem Jungen auf die Welt zu helfen. Zum zweiten Mal öffnete sich ihnen die Gasse. Sie schritten durch das Spalier. Es war die einzige Ehre, die man ihnen antat.
»Wer hätte gedacht, daß wir in Rußland einfallen, um schließlich einer Russin bei der Geburt zu helfen«, bemerkte Alexander mit einem gewissen tragisch ironischen Unterton.
»Eine aufwendige Aktion für die deutsche Wehrmacht«, spottete Klömring. »Wahrscheinlich die teuerste Geburtshilfe in der Geschichte der Medizin.«
Kommentar:
Alexander hat das große Los gezogen. 1941, am Vorabend des Rußlandfeldzugs heiratet der Leutnant aus kleinbürgerlichem Haus die Tochter seines adligen Generals; der Traum einer Liebesheirat ohne Wenn und Aber. Doch die Zeiten sind der Liebe nicht günstig. Der Krieg verändert die Menschen. Für den Oberst endet er in russischer Gefangenschaft. Das Trauma, zu den Verlierern zu zählen, scheint umzuschlagen, als die Russen ihn hofieren. Alexander glaubt, den Teufel mit Beelzebub austreiben zu können und wird wiederum mißbraucht. Am Ende ist er General der NVA und hat alles verloren, seine Liebe, wie sich selbst. Marianne wäre seine Rettung gewesen. Sie hat zu sich selbst gefunden.