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Barbara Herrmann
»Der wahre Ulbrich?

Welcher ist es? Der durch das unbestechliche Objektiv gesehene oder der durch den Blick der Malerin subjektiv verfremdete? Wer von denen wäre Ihnen denn lieber? Entscheiden Sie sich. Es gibt nur entweder oder; sowohl als auch ist verboten. Wie im Märchen. Nur eines der Motive spiegelt das wahre Wesen des Autors. Wählen Sie das falsche, haben Sie sich als mein Leser, meine Leserin disqualifiziert. Pardon wird nich jejeben! Das sei unfair? Seit wann ist der Autor verpflichtet, mit seinen Lesern fair umzuspringen? Sie tun es ja auch nicht. Solch eine Pauschalverurteilung sei ungerecht? Zu meinen Figuren pflege ich ein herzliches Verhältnis, gegen Lebende erlaube ich mir Willkür und Spontanität. Allwaltende Gerechtigkeit? Wie langweilig!«

Störgröße U

Ein Interview mit Bernd Ulbrich
von Horst Illmer, © 2008

Lieber Bernd Ulbrich, schön, dass Sie sich zu diesem ausführlichen Interview die Zeit genommen haben. Beginnen wir doch bitte mit dem »leidigen« Thema Biographie: Wann und wo wurde Bernd Ulbrich geboren? Wie waren die Familienverhältnisse und welchen schulischen und beruflichen Werdegang nahm Ihr Leben?

Warum wurde ich geboren? Es herrschte Krieg, mein Vater war Soldat und bekam Urlaub. Gewollt war ich nicht nur wegen des Krieges nicht. Ich blieb am Leben, nun mit der Prägung, mich auch weiterhin zu behaupten. Das seit dem 20. Januar 1943. Mein Vater blieb an der Ostfront vermißt, was mir weitere Mißhelligkeiten aufbürdete, bis ich schließlich um 1950 das tägliche Gebet für seine Rückkehr verweigerte. Die kindliche Logik und auch traumatische Erlebnisse in einem evangelischen Ferienheim trieben mich dazu. Meine Mutter blieb eine einfache Frau, die nicht die Chance hatte, aus ihren Anlagen etwas zu machen. Auch das kam als Erbe auf mich.

In fast autistischer Abgeschiedenheit aufgewachsen, eignete ich mir die Welt nicht ohne Probleme an, dazu gehören drei Ehen und vier Kinder sowie etlicher weiblicher Hochverrat, natürlich auch meine Unfähigkeit dem zu entgehen.

Ich war ein stilles Kind, zog mich, umgeben von menschlicher und räumlicher Enge, frühzeitig in die Welt der Literatur zurück und zu meiner Großmutter. Aufgrund dieser Eigenschaften und trotz proletarischer Familie und guter schulischer Leistungen durfte ich nur die 10-Klassenschule besuchen, fiel in der Lehre als Chemiefacharbeiter ab auf gerade mal bestanden. Durchfallen lassen konnte man mich nicht, da ich mich just aus Abenteuerlust zur Volksmarine verpflichtet hatte. Nach dieser Schule fürs Leben legte ich an der Abendschule das Abitur mit der Note eins ab und studierte an der HU zu Berlin erfolgreich Chemie. Diesen gewinnbringenden Irrtum erkannte ich zu spät und begann im 4./5. Studienjahr mit ersten Schreibversuchen, die nach vier Jahren in der Industrieforschung dann in die freiberufliche Existenz mündeten. Der Einsatz, gesundheitlich wie pekuniär, war hoch, hat sich jedoch letztlich ideell in jeder Beziehung gelohnt.

Als Wohnwort kam wohl nur Berlin in Frage, mit hin und wieder wechselnden Adressen, aber doch sehr standortsicher (abgesehen von den drei Jahren in Stralsund und Kühlungsborn bei der Marine).

Wann begann der Weg zum Schriftsteller? Welche »Literarisierung« in Schule, Elternhaus oder durch Freunde fand statt?

Vorbedingungen dazu hatte ich so gut wie keine. In unserem Haushalt gab es vielleicht zehn Bücher, Reisebeschreibungen, Tierwelt, aber immerhin. Obwohl meine Mutter, finanziell darin wohl unterstützt durch meine Großmutter, mein Lesebedürfnis immer förderte. Ein Märchen, mit elf, zwölf verfaßt, ging verloren. Prominente Lehrerpersönlichkeiten kreuzten nicht meinen Weg. Die sozialistische Pflichtlektüre war eher abschreckend. Freunde hatte ich wenige, zumal keine solchen, die lesend nach Höherem strebten. Also hundertprozentiger Autodidakt. Es muß an den Genen liegen. Vielleicht kann man künftig solche Mißbildungen reparieren.

Wie sah damals und wie sieht heute Ihre Lektüre aus: Welche frühen/späten »Helden« gibt es?

Ich lobe mich denn doch als der Spätentwickler, der ich bin, später geht’s nicht. So habe ich mich erst in den letzten sieben, acht Jahren über Joyce, Dostojewski, Thomas Mann hergemacht, nunmehr mit reifem Geist und frischer Erinnerung gesegnet. Die frühen Helden? Hauffs Märchen, Tausend und eine Nacht. Käptn Morgan, der Flibustier. Der Kaspar Schmeck von Alex Wedding, die Polarforscher des 19., 20. Jahrhunderts, Käpt’n Nemo, klar, ein Robinson Crusoe selbstverständlich. Nicht zuletzt Huckleberry Finn und Tom Sawyer. Später Alexis Sorbas und ein dieser deutsche Oberleutnant Forell, der sich 3000 Kilometer durch die Sowjetunion in die Freiheit durchschlug. Fast hätte ich Kara ben Nemsi ben Hadschi Halef Omar ibn Hadschi Dawud al Gossarah vergessen. Ich kann’s noch! Und natürlich den Oberst Buendia, und keine Frage Casanova, der ewig Suchende. Einen der wichtigsten hätte ich fast unterschlagen, den Ingenieur und Entwickler von Modellflugzeugen Dorfmann (in amerikanischen Filmen heißen alle Deutschen Dorfmann oder so ähnlich), Protagonist in dem Film Der letzte Flug des Phönix. Mit seinem Willen treibt er die anderen Gestrandeten zur Rettung an. Faszinierend! Irgendwie, fällt mir dabei auf, habe ich, scheint’s, einen fatalen Hang zum Abenteurertum. Sicherlich habe ich ein paar der prägenden vergessen. Sie werden sich in Albträumen rächen. Von gegenwärtigen Politkern wüßte ich keinen, der meiner Sympathie würdig wäre, nun sicherlich Vaclav Havel und Allende und ein bißchen Prinz Charles mit seinem Umweltengagement, der Dalai Lama, ja, eben Leute, die nicht vordergründig Machmenschen sind und kritischen Verstandes.

Sie hatten zur Zeit der DDR, trotz Publikationsverbots ab ‘83, großen Erfolg. Wie kam es zu den ersten Veröffentlichungen? Wann begannen die Probleme? Wie erfolgreich waren Sie außerhalb der DDR?

Als SF-Autor hatte ich es anfangs leicht in der DDR, wenngleich sich bald auch Widersprüche ergaben. Die Kulturbürokratie ließ mich jedoch nicht ganz verkommen. Ein neuer Problemfall und Westabgang war nicht erwünscht. Immerhin kam diese Strategie meinen Lesern entgegen und ich somit zu einer Gesamtauflage von ca. 370.000 verkauften Büchern. Arbeiten von mir oder auch ein ganzes Buch erschienen in, glaube ich, sieben Ländern des Ostblocks.

Ein seit 1983 unausgesprochenes Publikationsverbot ließ trotz vieler Nachauflagen der drei ersten Titel meinen Namen doch zur Bedeutungslosigkeit schwinden, obwohl bereits in den Achtzigern bei Suhrkamp verlegt.

Von Mißerfolg in der Nachmauerzeit kann man gar nicht reden. Denn es wurde ja kein einziger meiner nunmehr Romane von einem BRD-Verlag mehr angenommen. Nun ja, Erfolg kann man solchen Boykott schließlich auch nicht nennen. Die beiden Sammelbände 1993 und 1994 bei Kiepenheuer/Leipzig verdanke ich allein einer damals in dieser Region noch existenten Literaturmentalität.

Zwischen 1971 und 1976 entstanden erste literarische Vorarbeiten, die dann zu den zehn »utopischen Erzählungen« der ersten Buchveröffentlichung »Der unsichtbare Kreis« (1977) führten. In dieser Zeit wurde auch ein SF-Hörspiel von mir produziert. Danach folgte 1980 »Störgröße M«, ein Sammelband mit sieben Geschichten, ebenfalls Science Fiction.

Damit begannen die Probleme ihre Schatten vorauszuwerfen: Schreib mal so nicht weiter, riet man mir noch freundschaftlich. Ich konnt’s nicht lassen. Dann die sechs Gegenwartserzählungen, 1983 in »Abends im Park und nachts und morgens«. Die überforderten Lektorat und Zensur. (Wir wußten nicht, was wir da erlauben. Können Sie nicht einfacher schreiben?). Diese hilflose Forderung erging an mich im Rahmen einer freundlichen Unterhaltung im Ministerium für Kultur. Ich hatte darum ersucht, da mir nach drei Jahren endlich klar wurde, daß hinter den Ablehnungen System steckte. Mit diversen Nachauflagen meiner unkomplizierteren SF-Bücher hielt man mich und sich selbst über Wasser. Dazu kamen dann die Probleme, weil ich in der Verbandsöffentlichkeit meinen kritischen Geist nicht zu zügeln verstand und politische Ambitionen auch da ruchbar wurden. Es gibt keine gute Literatur unter Auslassung gesellschaftlicher Reflexion.

1993 und 1994 konnten im Leipziger Gustav Kiepenheuer Verlag die Bücher »Elternmißhandlung oder die Vollendung des Turmbaus zu Babel« (neun experimentell-surreale Erzählungen) und »Wenn morgen Weltende wäre« (vier »Geschichten über die Liebe«, nochmals traditionelle SF-Themen aufgreifend) veröffentlicht werden, bevor der Verlag dann ein Opfer kafkaesker Rechtsprechung wurde. Man kann hier wohl von Klassenjustiz reden. In dubio pro was?

»Flam oder Diesseits und Jenseits«, mein erster veröffentlichter Roman, erschien schließlich erst 2005 im Berliner trafo Verlag.

Wie darf man sich den »freiberuflichen Autor« im real existierenden Sozialismus vorstellen?

Literatur war in der DDR Mangelware, zumal Unterhaltungsliteratur. Als die galt SF. So lange man diesen Rahmen nicht durchbrach, vielleicht mit systemkritischen Ambitionen, war alles in Ordnung. Einmal als Autor etabliert, war man sozusagen konkurrenzlos und nur abhängig vom Papierkontingent des Verlages und natürlich dem Wohlwollen und der ideologischen Wertschätzung der Kulturbürokratie. Die Literaturszene war eng, aber übersichtlich, ziemlich provinziell, der Einäugige war schnell König und so gefährdet wie ein solcher. Die Existenz war halbwegs gesichert, man war versichert, die Miete bezahlbar und privilegiert war man auch noch. Das ist in Ordnung, wenn man sich dadurch nicht kaufen ließ. Ein bißchen frech mußte man sein. Dieser vorauseilende Gehorsam ist ein weltweites und uraltes Phänomen. Man kann die Grenzen immer wenigstens leicht überschreiten, ohne sich akut zu gefährden. Mit meinen heutigen Arbeiten würde ich in der DDR ein Knastabonnement bekommen. Ich kam halt wieder mal zu spät, typisch deutsch eben. Ein Märtyrer bin ich nicht. Warum nicht? Stefan Heym bringt es in seinem Schwarzenberg auf den Punkt: Der jüdische-deutsche, nunmehr amerikanische Offizier fragt seinen deutschen Gesprächspartner entgeistert: »Revolution, mit diesem Volk?!«


Als Teil desselben bin ich kein Revolutionär. Mit wem auch? Als einsamer Rufer in der Wüste gibt man höchsten den Narren, wie ich am Anfang meiner Verbandsmitgliedschaft in der DDR und jetzt am Ende wieder im VS.

Warum begannen Sie mit SF? Warum wollten Sie dann keine SF mehr schreiben?

In der Zeit meines Aufwachsens in Berlin bestand ja bis zum Mauerbau die Möglichkeit, im Westteil der Stadt einzukaufen, was ich auch reichlich ausnutzte und meine Groschen in die gleichnamigen -Hefte und in Comics investierte. Da entwickelte sich eine frühe Liebe zur Science Fiction (über Utopia- und Terra-Romane usw.), die mich lange Zeit nicht losließ.
Als ich dann selbst zu schreiben begann, wurde aus meiner Fluchtliteratur die Literatur, in die ich flüchten konnte. Allerdings wurde es mir im Genremilieu bald zu eng, mein politisches Bewusstsein wollte sich in anderer Form ausdrücken.

Sie begannen mit Kurzgeschichten und haben sich dann zu längeren Texten hin entwickelt – war das gewollt so oder ergab es sich einfach? Welches Verhältnis haben Sie zur deutschen Sprache?

Wollen kann man gar nichts in der Literatur. Es ergibt sich aber auch nicht einfach so. Es schlummert einfach eine Ahnung in einem, die einem befiehlt weiterzumachen, wenn‘s sein muß, bis zum Nobelpreis. Dabei ergeben sich zwangsläufig, wenn man ausreichend und abwechslungsreich ißt, trinkt und liebt, neue Gehirnstrukturen, und die verlangen dann nach neuem Futter in Form von großen Romanen. Per aspera ad littera, es ist ein steiniger, aber unvergleichlicher Weg. Man überwindet ständig aufs Neue Grenzen. Die der SF waren mir zu eng geworden, stilistisch wie inhaltlich. Im Laufe der Zeit bin ich immer dichter an meine Gegenwart herangerückt, habe mich herangewagt wie an eine unerreichbare Geliebte, tastend und voller Zweifel, ob sie mich erhört. Nun ja, inzwischen habe ich sie herumgekriegt, und ich glaube, sie ist mir so dankbar wie ich ihr. Aber das ist noch unser Geheimnis.

In anderer Hinsicht darf ich mich offen bekennen: Ich bin ein militanter Gegner der sogenannten Rechtschreibreform. Wenn ich das Wort höre oder den Auswirkungen des Machwerks begegne, ziehe ich meinen Revolver. Das stammt übrigens nicht von PG Goebbels, sondern aus der Nazischmonzette Schlageter. Aber warum soll ich mir von denen Wörter stehlen lassen, und seien es Schlagworte? Zurück zur Kulturverhunzung neuester Zeit am Körper der deutschen Sprache. Das ist, als hätte eine Puffmafia zwecks eigenen Vorteils eine kerngesunde Frau zur Total-OP ins Spittel eingewiesen, um sie unfruchtbar zu machen. Aus Sparsamkeitsgründen hat man nicht Ärzte, sondern Fleischer mit der OP betraut. Heraus kommt eine gebrochene, willfährige Hure, Schatten ihrer einstigen Schönheit. Da sind mir meine Spanischkenntnisse, dieser Sprache eines stolzen Volkes, ein schwacher Trost.

Nachdem Sie in »Flam oder Diesseits und Jenseits« ja schon in der Gegenwart angekommen waren, begeben Sie sich jetzt in Ihrem neuen Romanprojekt zurück zum Ende des Zweiten Weltkriegs, beziehungsweise in die ersten Jahre der Nachkriegszeit. Aus ferner Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit? Schreiben Sie dann demnächst über Christi Geburt?

Die Wege des Herrn sind unergründlich. Letztlich ist alles Gegenwart, nur das Interieur variiert. Und wie man der Weiber nie genug haben kann, so reicht eben eine Gegenwart auch nicht aus für den suchenden Geist. Der ist maßlos und liebt sie doch alle, wenn auch anders als ein gewisser Mielke, nämlich in Würde und mit Stil, aber eben eine ganz besonders. Die zwischen Vergangenheit und Zukunft kann eben nur die Eine sein. Ich habe mir vorgenommen, sozusagen als Alterswerk, auch noch bei dem Gekreuzigten anzukommen, jedenfalls fast. Ein Roman um die Figur des Paulus, der ja viel wichtiger für das Entstehen des Christentums ist, als der Prophet selbst, so wie der Erfinder einer Neuheit mitunter hinter dem Vermarkter zurücksteht. Religion als Phänomen menschlichen Geistes ist schon ein interessantes Thema. Wie langweilig wäre die Welt, wenn wir sie völlig durchschauten! Aber davor kommt noch ein revolutionärer Seefahrerroman, Ende des 17. Jahrhunderts, davor ein reiner Gegenwartsroman, in Berlin spielend.

Wie lebt es sich als Autor? Gibt es Kontakte zu Kollegen, Verlegern, Agenten, Presse und/oder Fans?

Wie lebt es sich als verkannter Autor, der Sprache im Gegensatz zu den deutschen Verlagen noch als Kunstmedium begreift, als Mittel durch seine Anschauung Welt und Menschen ein wenig begreifbarer zu machen, und der diese nicht degradiert zum reinen Informationsinstrument? Hartz IV ist noch das geringste Übel. Kontakte zu Verlagen pflege ich, und die Presse keine zu mir. Warum sollte sie auch? »Kollegen« ignoriere ich, seitdem ich im SV kollektiv ausgelacht wurde, ob meines Anspruchs informiert und nicht manipulierbar zu sein. Vielleicht bin ich ja unter den freiwillig Blinden der Einäugige.

Das doch recht große SF-Fandom in der DDR hat mich seinerzeit zweifellos zur Kenntnis genommen, wie auch noch heute. Allerdings erreichte mich, stasigesteuert, über all die Jahre hinweg keinerlei »Fanpost« - was man jetzt im Nachhinein seltsam finden kann, damals störte ich mich nicht daran. Aber zwei Briefe an meine Privatadresse sind mir heute noch Beweis meiner Wirksamkeit und Wertschätzung.

Welche Beziehung besteht zu den neuen Medien Internet, E-Book oder freier Download alter und neuer Texte?

Von den neuen Medien halte ich nicht viel. Das Buch als sinnliches Medium ist unersetzbar, so sehr auch Modernisierungsfanatiker dem Neuen verfallen sein mögen, und wenn ich dem Ausdruck zeitgemäße Sprache begegne, greife ich sowieso zum, na…, wozu wohl? Na, zum PC, in meiner Sprache ein Rechner, auf dem ich seit 1990 weltbegeisternde Werke verfasse und den Glauben nicht verliere, daß die Letzten die Ersten sein werden. Manchmal beißen die aber auch die Hunde. Es gibt keine Solidarität unter den verfeindeten Einzelgängern. Böll, er ruhe in Frieden, konnte sich als Großer Illusionen leisten. Darf man sich für noch größer halten, da man sich keine leistet?

Da zu den »neuen« Medien immer stärker das Hörbuch gehört, haben Sie schon einmal über die Umsetzung Ihrer Texte (evtl. auch der unveröffentlichten) in dieses Medium (Hörbuch, Lesung, Hörspiel) nachgedacht?

Hörbuch, nicht uninteressante Ergänzung. Aber wer produziert einen unbekannten Autor wie Bernd Ulbrich. Das Wichtigste ist und bleibt die intime Auseinandersetzung mit dem geschriebenen Wort, die Imagination erregender Bilder in der Stille des eigenen Ichs. Nur ich und das Buch, das ist ein zutiefst erotischer Vorgang. Von literarischem Gruppensex in Form kollektiven Textabhörens halte ich nicht so sehr viel. Aber einen gewissen Reiz hat es vielleicht doch; ich, das Buch und die Stimme, ein flotter Dreier. Wenn allerdings die graphic novel allem anderen den Rang ablaufen sollte, dann landen wir eines Tages wieder bei den Glyphen. Schon heute dient Sprache ja kaum noch als Kunstmedium, sondern wird degradiert zum dürren Aussagesatz (Dieter sitzt am Tisch. Der Tisch ist grün. Er trinkt Bier. Wer??). Wieviel an gestalterischer Kraft und Phantasie geht mit solcher Trivialisierung der Sprache verloren. Die Menschen lassen sich zur Bequemlichkeit verführen. Alle großen Reiche und Zivilisationen sind auf diese Weise untergegangen. Warten wir’s ab. Oswald Spengler läßt grüßen.

Wie sieht die Zukunftsplanung aus? Gibt es Unveröffentlichtes, sind weitere Bücher geplant oder sogar in Vorbereitung?

»In der Schublade« liegen sechs fertige Roman-Manuskripte*: Mein Anfang der Neunziger Jahre entstandener Erstling »Auf der Suche nach dem verlorenen Traum« und der 2007 in einem Schaffensrausch entstandene »Die Konferenz oder wie G.O.T.T. erfunden wurde«. Beide harren dem Tag entgegen, an dem sie sich der staunenden Öffentlichkeit präsentieren dürfen.

Zur Zeit arbeite ich an »Zwei tauschen ihren Schatten im Beisein eines dritten«, einem großangelegten Romanprojekt mit jüdischer Thematik. Es handelt vom Ende des Zweiten Weltkriegs in Polen, Januar ’45, bis zur Gründung des Staates Israel und versteht sich als Plädoyer für die Existenzberechtigung desselben und für die Existenzberechtigung der Liebe in Augenblicken des Todes. Ausführlicher kann ich ihn hier in drei Sätzen nicht beschreiben, ohne Klischees heraufzubeschwören. Denn diese Thematik ist vor mir auf diese Weise noch nicht behandelt worden. Das meint die Schicksale und Verflechtungen der Figuren, die Ereignisse zwischen Liebe und Tod, zwischen Stärke und Versagen, zwischen Wandel und sich treu bleiben.**

Zu guter Letzt noch ein wenig Provokation: Ist Literatur Nabelschau? – oder andersherum gefragt: Für wen schreibt der Herr Autor?

Literatur ist ohne Wenn und Aber vor allem Nabelschau. Es kommt jedoch darauf an, was sich im Nabel spiegelt, was das Sonnengeflecht, diese geheimnisvolle zweite Seele des Menschen alles gespeichert und umgewandelt hat, in Erkenntnis, in Haß und in Liebe, in Glaube und in Hoffnung. Nein, nicht in Verzweiflung! Wenn sich die Welt im Nabel einfindet, dann bricht mitunter Literatur aus diesem Zentrum hervor, wenn nicht, dann bleibt es bei versetzten Blähungen.
Schließen wir mit einem anderen starken Bild: Wir Literaten sind Leichenfledderer. Wovon schrieben wir ohne all die Opfer des Krieges, der Gier, der Verblendung und ohne die der Liebe?


* Siehe Rubriken: Unveröffentlicht und Aktuell
** Nicht mehr aktuell, siehe Rubrik: Unveröffentlicht